Saint Boy in Tokio 2021 und was bedeutet die Situation für uns Menschen?

Die Situation in Tokio 2021 im Kontext von Annika Schleus und Saint Boy hat mich zutiefst betroffen gemacht.

Was passiert hier gerade, dass so viele Menschen so stark auf diese Situation reagieren? Worum geht es hier in der Tiefe? Und ich kann sicherlich nur einen kleinen Bruchteil der Situation mit meinen Worten - und durch meine Lebenswahrnehmung geprägt - erfassen, und dies hat ausdrücklich keine allgemeingültige Wahrheit (sofern es dies überhaupt gibt).

 

Saint Boy hat sich gewehrt. Er hat ganz klar seine Überforderung und seine Angst zum Ausdruck gebracht. Und in dem ganzen System (Annika Schleus, die Trainerin, die Entscheider, der Reporter, die Zuschauer etc.) gab es keinen einzigen Menschen, der seine Angst erkannt bzw. dem Tierwohl angemessen darauf reagiert hat (auch bereits im Vorfeld nicht). Sondern im Gegenteil wurde ihm noch öffentlich Gewalt angetan. Mein Respekt gilt diesem Pferd, welches so deutlich gezeigt hat, dass es der Situation in Tokio nicht gewachsen war. Ich wünsche ihm aus ganzem Herzen, dass er nach Tokio einen Platz findet, an dem er einfach nur Pferd sein darf und wieder lernen kann, dass es auch Menschen gibt, denen man vertrauen kann.

 

Annika Schleus hat auf eine Art und Weise auf Saint Boys Verweigerung reagiert, die klar zum Ausdruck gebracht hat, dass es ihr in dem Moment wichtiger war, alles dafür zu tun, um doch noch zu gewinnen und die Angst von Saint Boy vollständig ignoriert. Ganz im Gegenteil wollte sie ihm - befeuert auch noch von ihrer Trainerin im Außen - mit Gewalt ihren Willen aufzwingen. Das mögen manche Menschen auf einer Ebene auch als verständlich erklären, denn schließlich hat sie vermutlich ihr ganzes Leben lang hart auf diesen Moment hin trainiert und wenn sie gewonnen hätte, wäre sie in die Geschichte eingegangen.

 

Und aus einer anderen Sichtweise heraus betrachtet, hätte sie ja theoretisch auch die Möglichkeit gehabt, abzusteigen, sich der Bedürfnisse von Saint Boy anzunehmen und damit sicherlich viele Herzen weltweit gewonnen.

 

Und auch „dem System“ nun die Schuld zu geben, erfasst aus meinem Verständnis heraus nicht die Situation auf einer tieferen Ebene.

 

Hatte Annika Schleus hier wirklich innere Wahlfreiheit? Ich bezweifle es, denn für mich wirken hier ganz klare Traumastrukturen. Damit möchte ich nichts gut- oder schlechtreden. Sondern ich möchte anhand meines Traumaverständnisses die Situation erläutern:

 

Trauma ist in unserer Gesellschaft aus meiner Wahrnehmung heraus immer noch ein sehr großes Tabuthema, oft sehr negativ belastet und wird gerne auf andere abgeschoben. Wer behauptet schon gerne von sich selbst, traumatisiert zu sein? Provokativ ausgedrückt: Es ist doch viel leichter, wenn dies die anderen sind und man selbst ein guter und traumafreier Mensch ist. Dabei betrifft Trauma einen Großteil der Menschen weltweit und wir traumatisieren uns beständig gegenseitig, ob nun bewusst oder unbewusst. Und vielleicht würde uns eine andere Begrifflichkeit den Zugang zum Traumabewusstsein erleichtern, z.B. „abgeschnitten sein von Überforderungsgefühlen“ (beispielhaft gedacht).

 

Was bedeutet Trauma nun eigentlich? Trauma heißt, dass das, was von außen auf uns eindringt, zu viel, zu schnell und zu plötzlich ist und in dem Moment nicht verarbeitet werden kann. Das können Unfälle, Schockerlebnisse, Todeserfahrungen und dergleichen mehr sein. Jedoch auch große Bühnen wie in Tokio sind sehr traumabelastet. Denn das, was hier bei solchen Auftritten auf Mensch und Tier einströmt, ist in diesen Augenblicken in keinster Weise zu verarbeiten. Zudem wirkt Trauma auch bereits im Kleinen. Ein Beispiel: Ein Mensch betritt einen Raum, in dem sich mehrere Menschen befinden. Der Mensch, der den Raum betritt, wird nun von den anderen Menschen im Raum abgelehnt (das muss noch nicht einmal ausgesprochen sein, es reicht schon, wenn die Menschen im Raum diese Empfindungen in sich tragen). Auch das ist für den Mensch, der abgelehnt wird, Trauma!

 

Auf Traumata können wir nur mit Kampf, Flucht oder Erstarrung zu reagieren. Und so wie es sich mir darstellt, ist das Traumareaktionsmuster von Frau Schleus betreffend die Situation in Tokio ziemlich klar der Kampf. Dazu passt auch, dass sie sich jetzt ja gegen die vielen Angriffe wehrt (was auch ihr gutes Recht ist, das will ich keinesfalls mindern). Doch sobald wir aus dem Traumamuster heraus agieren, haben wir innerlich keine Wahlfreiheit mehr.

 

Erst wenn ein Mensch seine Traumaerfahrungen erkannt und gefühlt hat, erfolgt Integration derselben, und erst dann haben wir wirklich Wahlfreiheit in Situationen, in denen unsere frühen traumatischen und meist unbewussten Erlebnisse durch Situationen im Jetzt berührt werden.

 

Doch im übertragenen Sinne geschehen Situationen wie in Tokio tagtäglich im Großen und im Kleinen. Wie viele Pferde gibt es allein in Deutschland, denen tagtäglich Gewalt angetan wird? Ich denke es sind unendlich viele. Und sei es "nur" dadurch, dass Sie 23 Stunden am Tag auf engstem Raum in Boxen eingesperrt werden und dann eine Stunde am Tag Höchstleistung vollbringen sollen. Auch von den vielen Gewaltanwendungen durch Gertenhiebe, Sporen, schmerzhafte Zäumungen, nicht erkannten Schmerzen und vielem mehr einmal abgesehen. Und wie viele Pferde haben es noch richtig gut, wenn man sie mit vielen anderen Tieren (Kühen, Hühnern etc. auf engstem Raum) vergleicht. Doch da ist es nicht so offensichtlich und geschieht nicht auf der großen Bühne und kaum einen kümmert es.

 

Und wie viele Kinder gibt es weltweit, denen tagtäglich Gewalt angetan wird. Sei es durch Schläge, Missbrauch, psychische Gewalt, Vernachlässigung und dergleichen? Es sind unendlich viele. Doch auch dies geschieht meist im "stillen Kämmerlein" und tangiert die Menschen kaum in ihrem alltäglichen Leben.

 

Doch aus Kindern werden Erwachsene, die durch ihre Erfahrungen geprägt werden und diese oft unbewusst weitergeben und über andere Lebewesen ausagieren (sei es nun am Menschen oder am Tier). Und die inneren Strukturen, die dadurch in den Menschen entstehen und ihr Verhalten als Erwachsene maßgeblich beeinflussen, werden nicht mehr erkannt, weil wir so sehr mit unserem Überleben und unseren Alltagssorgen beschäftigt sind.

 

Annika Schleus hier jetzt zu verurteilen und sie und ihre Trainerin als die allein „Schuldigen“ hinzustellen, ist sicherlich leichter, als bei sich selbst zu erkennen, wo der Einzelne sich ungerecht anderen Lebewesen gegenüber verhält (egal ob gegenüber Mensch oder Tier).

 

Auch wenn man „dem System“ die Schuld gibt, wer oder was ist „das System“? Es sind immer „die Menschen“, die das System erschaffen haben und diejenigen, die es aufrecht erhalten. Und das sind derer viele. Denn auch als Zuschauer bin ich Teil „des Systems“.

 

Doch wem ist mit Schuldzuweisungen gedient? Wovon lenken diese den einzelnen ab? Was würde wirklich helfen, dass die Welt für uns Menschen und die Tiere zu einem besseren Ort wird? Helfen Schuldzuweisungen, „das System“ zu verändern? Wir würdest Du Dich in einer Situation vergleichbar mit der von Annika Schleus verhalten, wenn der innere und äußere Druck zu groß wird?

Aus meiner Sicht kann Veränderung nur im Individuum erfolgen. Denn nur wenn der einzelne Mensch in sich Veränderung bewirkt, kann sich gesamtgesellschaftlich etwas verändern. Und hier sind wir aus meinem Verständnis heraus tagtäglich und ein Leben lang gefordert, über uns selbst hinauszuwachsen und zu einer besseren Version unserer Selbst zu werden. Und ob jemand dies möchte oder nicht, kann jeder nur für sich selbst entscheiden.

 

Meine Motivation zu diesem Bericht: Auch ich kenne solche Anteile in mir, in denen ich andere verletze, ob nun bewusst oder unbewusst. Doch ich bin mir dessen immer mehr bewusst und schaffe mir immer mehr innere Wahlfreiheit dazu. Das heißt nicht, dass ich ein guter Mensch bin, aber das heißt im Gegenzug auch nicht, dass ich ein schlechter Mensch bin. Sondern ich lerne und wachse an meinen Erfahrungen und mache es jeden Moment so gut es mir gerade möglich ist. Und dies gestehe ich auch jedem anderen Menschen zu. Ob dann jemand etwas gut oder schlecht findet, steht wieder auf einem ganz anderen Blatt und gelangt schnell wieder in den Bereich der Bewertung.

 

Ich für mich wünsche mir, dass wir Menschen anfangen zu erkennen, dass das, was wir im anderen sehen, immer auch in uns ist, denn sonst könnten wir es im anderen gar nicht erkennen. Und je bewusster wir uns dessen werden, desto leichter fällt es uns, andere Lebewesen in ihren Bedürfnissen zu erkennen und zu respektieren. Und je klarer wir uns in unserer Geschichte erkennen und erfühlen, desto weniger braucht es Situationen wie diese in Tokio und desto besser wird es Menschen und Tieren auf dieser wundervollen Welt ergehen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.